Was ist eigentlich das Komplementäre an der KomplementärTherapie?
Unsere Gesellschaft orientiert sich primär daran, wie eine Krankheit entsteht. Daraus lässt sich im besten Fall ableiten, was es braucht,um wieder gesund zu werden. Dieses Modell der Pathogenese (griech. Entstehungvon Krankheit) hat grosse Vorteile, kann in seiner Vereinfachung aber der Komplexität des Menschen oft nicht gerecht werden. Es gründet auf der mechanistischen Sichtweise von Descartes (1596-1650), die davon ausgeht, dass der Mensch eine Gliedmaschine ist, wobei der Leib bestimmten Gesetzen folgt und nicht von der Seele beeinflusst wird.
Die Erkenntnis, dass Körper, Geist und Psyche sich wechselseitig beeinflussen, existiert allerdings spätestens seit Platon. Die Salutogenese nimmt diesen Faden auf. Aaron Antonowsky (1923-1994), hat sich gefragt, was die Menschen gesund hält. Er hat erkannt, dass die geistige Haltung einer Situationgegenüber, massgeblich dazu beiträgt, dass ein Mensch auch unter schwierigsten Bedingungen seine Gesundheit bewahren kann. Hier kommt die Komplementarität ins Spiel. Ergänzend zur pathogenetischen Sicht stellt die KT die Frage, wie ein Mensch das eigene Wohlbefinden selbstkompetent und nachhaltig fördern kann. Dafür muss geklärt werden, was für diesen Menschen Wohlbefinden bedeutet und was ihn motiviert, einen Veränderungsprozess anzugehen. Schliesslich geht es darum herauszufinden, welche seiner Fähigkeiten ihn unterstützen, ein gesundes Gleichgewicht zu finden.
Was bedeutet Selbstregulation?
Das Menschenbild der KT – als Extrakt aus den wissenschaftlichen Forschungen der humanistischen Psychologie – beinhaltet die Prämisse, dass es der Natur des Menschen entspricht, sich immer wieder in ein Gleichgewicht zuregulieren. Diese dem Menschen und anderen Lebewesen inhärente Fähigkeit erkennen wir zum Beispiel, wenn wir uns physisch anstrengen. Unser Körper sucht umgehend einen Weg, um nach der Anstrengung wieder zur Normalität zu finden: die Herzrate verlangsamt sich, wir schwitzen, um die Köpertemperatur zu regulieren.Er passt sich ständig den inneren und äusseren Anforderungen an und stellt auf körperlicher,geistiger und emotionaler Ebene das bestmögliche Gleichgewicht her. DieserVorgang beschreibt den Begriff «Selbstregulation».
Damit sich ein System gut regulieren kann, braucht es innere undäussere Unterstützungen. Man kann sie mit Werkzeugen vergleichen, welchebewusst oder unbewusst dazu dienen, sich den Anforderungen anzupassen. ImIdealfall verhelfen diese Werkzeuge zu einer Regulation hin zu mehrWohlbefinden. Wir nennen sie Ressourcen, übersetzt als Quellen der Stärke.Innere Ressourcen wie Vertrauen, Mut und Zuversicht entstehen durch unsereErfahrungen. Wir tragen sie in uns. Äussere Ressourcen entstehen ausLebenssituationen und sind eher veränderlicher Natur. Das können Mitmenschen,Tiere, Orte oder Tätigkeiten sein.
KT fragt also nicht nur danach, wie sich Gesundheit anfühlt,sondern auch, in welchen Lebensbereichen sie sich zeigt und welche Ressourcen derMensch mitbringt, um sich aus eigener Kraft wieder zu mehr Wohlbefinden zubewegen.
Wie finden wir von der Bedürftigkeit zur Stärke?
Die Menschen finden den Weg in unsere Praxis, weil sie sichLinderung von einem Leiden wünschen. Dieses Leiden nimmt naturgemäss viel Raumein. Die Gedanken kreisen darum, wie es entstanden ist und wie es wieder weggehen könnte. Kurz, die meisten von uns sind sogenannt «pathogenetisch» sozialisiert. Mit der KT können wir ein Anliegen nicht heilen, nicht «wegmachen». Unsere Möglichkeit ist, Menschen darin zu begleiten, sich besser wahrzunehmen, sich besser zu regulieren, um schliesslich zur Stärke zu finden und sich besser den Herausforderungen des Lebens anpassen zu können. Wir fragen danach, wie es sein soll, wenn es besser ist und was auf dem Weg dorthin hilfreich ist.
Oft ist es nicht einfach, sich auf diesen, an der Gesundheit orientierten Prozess einzulassen, wenn ein Leiden gross ist. Damit ein Menschsich dem Gesunden zuwenden kann, braucht es eine angemessene Anerkennung der Bedürftigkeit.Viele Leiden, insbesondere auf der psychischen Ebene, beruhen auf dem Versuch des sich selbst regulierenden Systems, sich einer Herausforderung anzupassen. Wir können davon ausgehen, dass dieser Lösungsversuch in seinem Ursprung nicht selten existenziell und der einzig mögliche Umgang war. So wird es naheliegend, dass das Leiden als Ausdruck eines Lösungsversuchs respektiert und gewürdigt werden muss.
Dazu kommt, dass ein Leiden, welches auf einer ehemals existenziell wichtigen Anpassung beruht, nicht ohne Widerstand aufgegeben werden kann. In unserem Nervensystem ist sie immer noch als rettende Strategie abgespeichert. Soll sie losgelassen und mit einer heute dem Wohlbefinden zuträglicheren Strategie ersetzt werden, erfordert dies Zeit und Vertrauen.
Der Weg führt über die Begegnung mit dem Leiden. In der Praxis istunsere Arbeit vergleichbar mit der eines Höhlenforschers oder einer Fallschirminstruktorin. Wir bieten die Anleitung und die Sicherheit. Getragen durch die therapeutische Beziehung und mit guten inneren und äusseren Ressourcen ausgestattet, erkundet die Klientin ihre Befindlichkeit. Wie fühltes sich im Körper an? Was will gesehen werden? Welches Bedürfnis steckt dahinter? So zeigen sich neue Wege der Bewältigung von Herausforderungen.
Was bedeutet es konkret, Stärke zu berühren?
Die Begegnung mit dem Anliegen des Menschen kann auf verbaler Ebene begleitet sein, findet aber auch in jeder einzelnen Berührung am Körper statt.
Masunaga (1925-1981) hat anhand seiner Forschung in der westlichenPsychologie die Meridiane mit «Lebensfunktionen» oder Lebenskompetenzen verknüpft.Das heisst, dass die Meridianenergie die ganzheitliche Stärke, die Ressourcen des Menschen beinhaltet. Kishi (1949-2012) beschrieb Meridiane als schmale Strassen, die erst bei einer Unterbrechung erscheinen. Berühren wir diese «Energiepfade» in unterstützender Weise, kommunizieren wir mit den körperlichen und psychischen Stärken eines Menschen. Das System des Menschen wird an diese in ihm wohnenden Ressourcen erinnert und beginnt sich wieder selbst zu regulieren.Peter Itin beschreibt es so: «Mit jeder Berührung bin ich im Kontakt mit einer essenziellen Ressource, die ich für den Organismus aktiviere und nutzbar mache.Ich behandle somit nicht ein Kyo des Dickdarmmeridians, sondern ich stärke die Fähigkeit loszulassen, die sich mir als Bedürfnis zeigt».
In meiner Berührung liegt die Frage: was kann ich Dir anbieten, was ist hilfreich für Dich, damit Du Dich mit Deiner Gesundheit, Deiner Stärke verbinden kannst?
Das System des Menschen sucht eine Antwort auf mein Angebot, sich zum Beispiel auszudehnen, Sicherheit zu finden, loszulassen oder wieder in Verbindung zu kommen. Es sucht sich den Weg zu mehr Wohlbefinden. Das bringt eine Reaktion hervor, welche mich wiederum zu einem neuerlichen,weiterführenden Angebot leitet. So entsteht ein nonverbales Zwiegespräch, ein Forschen mit verschiedenen Berührungsqualitäten. Es ist wie ein Tanz zwischen mir als Resonanzkörper und dem System des Gegenübers. So ermöglichen wir Selbstregulation, welche bewusst beobachtbar ist.
Wir können Stärke auch verbal berühren. Indem wir nach den Ressourcen fragen, welche dem Menschen bisher dienlich waren, Herausforderungen zu meistern. Wenn wir nach Wünschen und Visionen fragen, aktiviert diese benfalls die Kraft, sich dahin zu bewegen. Wenn wir mit unserer verbalen und physischen Präsenz da sind, unterstützen wir die Klientin, sich durch schwierige Empfindungen zu navigieren. Sie erlebt, wie sich diese verändern,was sie in ihrer Regulationsfähigkeit und in ihrer Selbstkompetenz stärkt.
Worin besteht der Unterschied zwischen «Stärke berühren» und «positivemDenken»?
Wir erinnern uns an Bücher mit Titeln, die uns suggerieren, mit genügend positiven Affirmationen gelinge uns jede Herausforderung. Hier bewegen wir uns auf der kognitiven Ebene. Die im Körper abgespeicherten Stärken eines Menschen in den Fokus zu rücken, ist ungewohnt.
Unser Nervensystem ist bekanntlich mit dem Hirn verbunden. Allerdings gelangen viermal mehr Informationen vom Torso zum Hirn als umgekehrt. Das positive Denken ist folglich nicht besonders effizient. Zudem sind viele Erlebnisse, besonders wenn sie aus früher Kindheit stammen, kognitiv nicht erreichbar. Sie sind im Nervensystem abgespeichert. Wenn wir positiv denken, ohne es zu fühlen, ist es so, wie wenn wir im Keller aufräumen wollen, dabei aber in der Küche zu Werke gehen.
Der entscheidende Unterschied liegt in der körperlichen und emotionalen Wahrnehmung. Mit der therapeutischen Berührung aktivieren wir diese Wahrnehmung. Wir steigen in den Keller. Wir fragen danach, wie sich eine Verletzung, eine Ressource oder ein erreichtes Ziel als körperliche Empfindung anfühlt. Indem wir uns zum Beispiel den Ressourcen zuwenden, berühren wir die Stärke und ermöglichen, dass sie physisch und emotional empfunden werden kann. Der Mensch kann diesen Vorgang einerseits als Selbstregulation beobachten und gleichzeitig entstehen neuronale Verknüpfungen. Durch wiederholtes physisches Empfinden wächst aus einem zarten Pflänzchen ein kräftiger Baum. So bringt die Zuwendung zur Stärke eine nachhaltige Veränderung.
Dieser Artikel ist im Zusammenhang mit dem Tageskongress derKo-Lebensschule vom Januar 2023 mit dem Thema Stärken im Fokus entstanden.
©Tamara Odermatt, Januar 2023
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